
Kapitel 6 – Das Band des Fürwahrnehmens

Das Band des Fürwahrnehmens verwandelt uns in präsente, sinnliche und vertrauenswürdige Menschen:
Indem wir unsere Wahrnehmungsfähigkeit entwickeln, unseren Wahrnehmungen vertrauen und ihnen folgen, lernen wir, unsere eigene Wahrheit radikal zu leben und auszudrücken. Zugleich verneigen wir uns vor der Wahrheit aller anderen Wesen.
Dadurch gewinnt dieses Band eine wahrhaft revolutionäre Kraft- sowohl in persönlicher als auch in kollektiver Hinsicht. Das Band des Fürwahrnehmens aufzunehmen kann zu Recht Herzklopfen verursachen. Ich spüre es gerade selbst.
Es ist fast nicht möglich, darüber zu schreiben, denn sinnliche Wahrnehmung ereignet sich immer im Hier und Jetzt, geschieht im Wachzustand fast so selbstverständlich wie Atmen. Wir können nicht anders als uns selbst, das Leben, die Welt, die Anderen permanent über unsere Sinne zu erfahren. Wollen wir diese Reize vermeiden, müssen wir uns willentlich abschotten.
Indem ich diesem durch und durch lebendigen Prozess übers Schreiben beizukommen versuche, steige ich zumindest für den Moment schon wieder aus. Denn durch das Schreiben entsteht eine Spur, die ich zurücklasse; sie gehört der Vergangenheit an, ist nicht mehr wirklich veränderbar. Und vielleicht erliege auch ich der Versuchung, die Wahrheiten, auf die ich beim Erforschen stoße, in Stein zu meißeln und sie mit einem Absolutheitsanspruch zu verbinden?
Alle, die hier lesen, sind eingeladen, die Wahrheiten, die ich an den Mann und die Frau bringe, lediglich als Anregung zu verstehen, als Impuls, die eigene Wahrheit immer wieder von neuem zu entdecken.
Wahrheit geht aus dem Leben hervor und dient dem Leben.
Wie das Leben wandelt sie sich ohne Unterlass (siehe hier auch Kapitel 1 –die 13). Im Gegensatz dazu ist die Lüge daran zu erkennen, dass sie sich diesem natürlichen Prozess der immerwährenden Veränderung entgegenstellt: Sie muss um jeden Preis bestehen bleiben, um nicht ans Licht zu kommen; sie muss wieder und wieder zementiert und eingebläut werden.
Wir alle sind geprägt von einer Kultur, in der die Lüge mit der Wahrheit oft genug verwechselt, in der Wahrheit mit Überzeugungen gleichgesetzt wird. An diesen Überzeugungen zu rütteln, kann sich sehr gefährlich anfühlen und uns sogar real in Gefahr bringen, wenn wir damit einen gesellschaftlichen Konsens in Frage stellen, Alle, die während der Corona-Zeit den öffentlich verkündeten „Wahrheiten“ zuwiderhandelten, wissen, wovon ich spreche.
Da wir mehrheitlich wenig Boden unter den Füßen und auch wenig Verbindung zu unseren Körpern haben, neigen wir dazu, einen Großteil unserer Sicherheit aus mentalen Konzepten zu beziehen. Sie geben uns die Richtung vor: Dank ihrer wissen wir, was richtig und falsch, gut und schlecht ist und müssen das nicht immer wieder neu herausfinden. Wir wissen, auf welche Seite wir uns zu schlagen haben, und welche Türen wir nie und nimmermehr öffnen werden. Die Konzepte sind unser Bollwerk gegen die Unvorhersehbarkeit des Lebens, die Macht des Schicksals.
Mit unseren mentalen Konzepten scheinen wir das Leben in den Griff zu bekommen und im Griff zu behalten.
Wir beharren auf unserem Standpunkt, ohne im selben Moment zu spüren, dass wir tatsächlich mit unseren Füßen auf der Erde stehen.


Nähmen wir aber für wahr, wie unsere Füße die Erde berühren, fiele uns sehr schnell auf, dass wir mit dieser Erfahrung beileibe nicht alleine sind, sondern dass jedes wurzelnde, kreuchende, fleuchende und aufrecht gehende Wesen ebenfalls nicht anders kann als in Verbindung mit der Erde zu sein – doch jedes auf seine einzigartige Weise. Von jedem Standpunkt aus wird die Erde anders erlebt.
Ich erinnere mich, wie verwirrend es war, wenn ich als Kind drei Häuser weiter zum Spielen ging, und von dort aus zum elterlichen Garten hinüberblickte. Wie andersartig und fern wirkte diese Welt auf mich, in der ich sonst so selbstverständlich zu Hause war, als gäbe es jenseits davon keine andere. Erlebnisse wie dieses gaben mir früh zu denken. Mir wurde klar, dass jeder Mensch sich selbst „Ich“ nennt, dass dieses „Ich“ also Abermillionen Gestalten anzunehmen vermag und jedes „Ich“ die Welt auf einzigartige Weise erfährt.
So hat jeder Standpunkt sein Recht. Wann immer wir einen Standpunkt zum Verschwinden bringen wollen, weil er unser mentales Konzept durcheinanderwirft, wann immer wir uns weigern, auch diesem fremden Standpunkt, Respekt zu zollen, sind wir egozentrisch unterwegs und üben Gewalt aus. Unsere Lebenswirklichkeit und unsere Fähigkeit zur sinnlichen Wahrnehmung verarmen dadurch.
Unsere mentalen Konzepte sind die Filter, die unsere Wahrnehmung meistens erheblich einschränken. Durch diese Filter lassen wir bestimmten Phänomenen übertriebene Aufmerksamkeit zukommen und beachten andere nur am Rande bzw. blenden sie komplett aus. So entstehen Verzerrungen und Lebenslügen, die wir aber als einzig gültige Wahrheit betrachten und nicht selten bis aufs Blut verteidigen. Im Kollektiv erleben wir das gerade eindrücklich in Form der Kriegstreiberei gegen Russland. Was sich gesamtgesellschaftlich aktuell zu einer handfesten Gefährdung der ganzen Menschheit auswächst, geschieht auf scheinbar harmlose Weise unentwegt in unserem Alltag – zum Beispiel wenn der Herbst beginnt:

Nun kann ich mich freuen an dem Farbenspiel, dem Knistern unter meinen Füßen; vielleicht bekomme ich sogar Lust, die Schuhe auszuziehen, um das weiche Laub unter meinen nackten Sohlen zu genießen, und ich lasse mir gerne den würzigen Wind um die Nase wehen.
Bin ich aber mit einem mentalen Konzept unterwegs, das da lautet: „Der Sommer war zu kurz; ich konnte nicht genug Sonne tanken, und schon fängt der Scheiß-Herbst wieder an mit seinem Nebel und seiner Dunkelheit, da werde ich bald wieder meine Depressionen bekommen“, bleibt von den vorher beschriebenen Sinnenfreuden nichts übrig. Die fallenden Blätter degenerieren zum Bedrohungsszenario. Ich realisiere gar nicht, wieviel Gewalt ich mir gerade selber antue, und wie ich mich vom Leben abschneide. Das Konzept des Mangels hat sich verselbstständigt; das Leben in seiner Fülle vermag mich nicht mehr zu nähren. So ist es in der Tat sehr wahrscheinlich, dass ich bald in winterlichen Depressionen versinke…
Wahrheit und sinnliche Wahrnehmung gehen Hand in Hand, bilden eine Einheit.
Wahrheit ist nichts Absolutes, Unverrückbares; sie darf immer wieder neu gefunden werden – in jedem Moment von jedem Menschen mittels der Bandbreite sinnlicher Wahrnehmung, die er oder sie sich zu erschließen vermag. Wahrheit ändert sich ständig – mal sanft und kaum merklich, mal stellt sie sich selber auf den Kopf und vollführt eine Rundumerneuerung.
Wenn eine Wahrheit sich in einer Art Endlosschlaufe ständig selber reproduziert – d.h. wir denken immer dasselbe, fühlen immer dasselbe, erleben immer dasselbe, alle Erfahrungen, die wir machen, geben uns recht -, können wir sicher sein, in einer schmerzhaften Lebenslüge gefangen zu sein. Dann ist es Zeit zu erwachen, die sinnliche Wahrnehmung bewusst zu praktizieren, zu erweitern und uns so nach und nach zu befreien.
Lasse ich mich auf das Abenteuer der unablässigen Wahrheitsfindung ein, unterliege ich nicht dem Irrtum, die Wahrheit gepachtet zu haben, und ich unterliege auch nicht dem Zwang, für diese Wahrheit in den Krieg zu ziehen. Ich verstehe, dass sich nicht nur die eigene sondern auch die kollektive bzw. die planetare Wahrheit permanent neu erschafft, zusammensetzt aus all den unterschiedlichen, teils gegensätzlichen Perspektiven, von denen aus sämtliche Menschen wie auch die anderen Wesen dieser Erde sich selbst und ihr Umfeld wahrnehmen. Meine festgezimmerte Weltanschauung mitsamt den trügerischen sich vervielfältigenden Bildern, die daraus hervorgehen, löst sich auf in Entdeckerfreude, echte Wissbegier.
Insofern ist eine frei fluktuierende Wahrnehmung das Tor zu erfüllten Beziehungen.
In dem Maß, in dem wir glauben, Bescheid zu wissen, in dem wir uns ein Bild gemacht haben, verschließen wir das Tor der Begegnung, schränken wir die Wunder, die uns zustoßen können, ein. Denn zulassen, fürwahrnehmen können wir in diesem Fall nur das, was zu unserem Bilde passt und sich dort einfügen lässt.

In einem Tagebucheintrag aus dem Jahr 1945 zieht Max Frisch radikale Schlussfolgerungen aus dem das zweiten Gebot des Alten Testamentes (2. Mose 20, 4-6): „Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist…“ Sinngemäß stellt Frisch fest, dass jedes Bild, das wir uns zurechtlegen von uns selbst, dem Leben und Anderen, das Lebendige tötet sowohl in uns als auch in denen, mit denen wir interagieren. : „Unsere Meinung, dass wir das andere kennen, ist das Ende der Liebe“, heißt es in der entsprechenden Notiz und weiter vorne: „Eben darin besteht ja die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, dass sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen in allen seinen möglichen Entfaltungen. Wir wissen, dass jeder Mensch, wenn man ihn liebt, sich wie verwandelt fühlt, wie entfaltet, und dass auch dem Liebenden sich alles entfaltet, das Nächste, das lange Bekannte. Vieles sieht er wie zum ersten Male. Die Liebe befreit es aus jeglichem Bildnis… “ (https://eva-a.de/literarisches/literarisches-archiv/du-sollst-dir-kein-bildnis-machen-2/)
Wir müssen die Bilder, die wir uns zurechtgelegt haben, nicht zerstören. Es reicht, wenn wir sie als solche erkennen und aus den jeweiligen Rahmen hinaustreten, die Bilder hinter uns lassen.
Mit dem Band des Fürwahrnehmens beginnen wir zu spielen, sobald wir uns erlauben, nichts zu wissen.
An wievielen Bäumen laufen oder – was in den meisten Fällen eher zutrifft: fahren – wir täglich vorbei, würdigen sie kaum eines Blickes, können sie kaum auseinanderhalten. Wir haken sie unverzüglich ab, erliegen der Illusion zu wissen, um was es sich handelt. Sie sind nichts weiter als ein toter Begriff. Erwecken sie dann doch unsere Aufmerksamkeit, dann sehen wir in ihnen sehr oft sogar Störenfriede bzw. Gefahrenquellen, die beseitigt werden müssen. Welch ein Wunder, wenn wir uns dafür öffnen, einem einzelnen Baum jenseits unserer Begrifflichkeit zu begegnen: „Haben Sie jemals einen Baum betrachtet, ohne ein einziges Wort der Sympathie oder Abneigung, ohne ein einziges Bild? Was geschieht dann? Zum ersten Mal sehen Sie den Baum, wie er ist, und Sie sehen seine Schönheit, seine Farbe, seine Tiefe und seine Vitalität“, so Krishnamurti in seiner Schrift The Awakenig of Intelligence. (https://kfoundation.org/l/de-quotes/).

Nur wenn ich mich auf diese Weise von einem Baum berühren lasse, entsteht Begegnung, kann ich die Erfahrung machen, dass ich über meine Wahrnehmung in einen permanenten Energieaustausch eintauche, der mich zutiefst verändert. Es enthüllt sich mir nicht nur das Wunder des Baumes, sondern auch mein eigenes.
Aufmerksam geworden auf eine Stinkesche im Landauer Ostpark legte eine Freundin ihr Ohr an den Stamm: „Und da hat der Baum tatsächlich mit mir gesprochen!“ erzählte sie mit leuchtenden Augen. Ein Baum kann sich uns auf vielerlei Weise mitteilen (siehe auch Kapitel 2 – Die Bänder): durch sein Wurzelgeflecht, durch die Glätte oder Rauhheit seiner Rinde, durch das Schimmern oder die Windungen seines Stammes, den Geschmack seiner Früchte, das Rauschen des Windes in seinem Blätterkleid, seinen Geruch, durch die Art, wie er seinen Weg ins Licht findet, sich in den Raum hinein entwickelt, seine milde oder mächtige Ausstrahlung… je mehr wir uns hingeben mit allen Sinnen in der Begegnung mit diesem Baum, umso wahrscheinlicher ist es, dass wir ihn als göttliches Wesen erfahren, dass die Grenzen verschwimmen, und wir mit dem Baum eins werden. Bäume können uns den Weg in die Tiefe genauso weisen wie den Weg ins Licht, sie spiegeln uns unsere Reifungsprozesse und ermutigen uns, unsere Früchte genauso bedingungslos und vertrauensvoll zu verschenken wie sie es uns vorleben. Wären regelmäßige Baumgespräche eine gängige Praxis, würde die aktuelle Therapeut*innenschwemme rasch versiegen.;). Und der Ökozid hätte sowieso ein Ende.
Wollen wir eine solche Empfänglichkeit wieder in uns erwecken, dürfen wir ein weiteres Mal die Kinder als die größten Lehrmeister*innen in unser Leben einladen.
Denn Kinder leben außerhalb von Glaubenskonzepten, und es kann ein mehr als mühsames Unterfangen sein, ihnen diese einzutrichtern. Sie sind durch und durch offen für das, was um sie herum und mit ihnen geschieht.

Mit geweiteten Augen , mit einem unermesslichen Staunen, das den gesamten kleinen Leib erfasst, sind sie unterwegs, strecken instinktiv die Händchen aus nach allem, was ihre Neugierde, ihren Wissensdurst weckt, ahmen die Geräusche nach, die an ihr Ohr dringen, wollen alles anfassen und am liebsten in den Mund stecken, herausfinden, wie es schmeckt. Eben dies führt zu ihrer extremen Verletzlichkeit. Sie bedürfen einer behutsamen Begleitung, damit dieser Forschergeist nicht erlischt.
In der Regel jedoch wachsen Kinder auf unter Erwachsenen, denen diese Empfänglichkeit schon vor langer Zeit abtrainiert wurde, und die es für ihren Erziehungsauftrag halten, dasselbe bei den ihnen anvertrauten Kleinen zu tun. Sie sind fertig mit sich und der Welt und empfinden den kindlichen Entdeckungsdrang als störend oder bedrohlich. Sie reagieren mit Maßregelungen, Rechthaberei, Fehlinterpretationen und Bewertungen. Das führt dazu, dass die Kinder sehr schnell irre werden an ihren Wahrnehmungen und ihnen nicht mehr vertrauen.
Ein Kind, das wahrnimmt, antwortet spontan mit Freude oder Schmerz und hat den natürlichen Drang, sich mitzuteilen. Wird es dafür verlacht, beschimpft, bestraft oder damit ignoriert, reagiert es mit einem Gefühl der Vereinsamung und tiefer Verwirrung. Es beginnt an seinen Wahrnehmungen zu zweifeln. Und da die Wahrnehmungen nicht zu stimmen scheinen, können auch die dadurch hervorgerufenen Emotionen nur verkehrt sein. Das Band zwischen Wahrnehmung und Emotion wird durchtrennt. Die Emotionen haben nun im doppelten Sinne keinen Grund mehr, verselbstständigen sich, geistern regelrecht herum, äußern sich in Wutanfällen, Weinkrämpfen, chronischer Ängstlichkeit, Hippeligkeit, Schreierei u.ä. In diesen Fällen macht das Kind wenigstens noch auf seine Not aufmerksam. Gibt es doch ein paar wache Erwachsene in seiner Umgebung, kann ihm eventuell geholfen werden.
Entscheidet sich das verstörte Kind aber stattdessen für reibungsloses Funktionieren, heißt dies: Es unterdrückt seine Emotionen oder spaltet sie komplett ab und flieht in die Gefühlskälte. Um dem inneren Durcheinander zu entgehen und sich der Zugehörigkeit zu dem lebenserhaltenden Umfeld zu versichern (siehe hierzu Kapitel 4 – Das Band der Reife) orientiert es sich ab sofort an den fertigen Wahrheiten, die ihm präsentiert werden, erhebt diese zum alleinigen Maßstab. Somit verliert es die essentielle Verbindung zu sich selbst, zum Leben, zur Quelle seiner Beziehungsfähigkeit. Sein Urvertrauen wird zugeschüttet, ebenso die Gabe zur Empathie.
Zur Veranschaulichung ein eher harmloses Beispiel aus meiner eigenen Biografie: Schon früh wurde ich mit dem Etikett „lebensunpraktisch“ belegt. Durch diesen Filter hindurch beäugten mich die Erwachsenen, sobald ich wagte, irgendetwas in die Hand zu nehmen. So erinnere ich mich an ein Spiel mit dem Gartenschlauch.

Den fasste ich nicht ganz oben an – wie es sich gehört, um zielgerichtet Wasser verspritzen zu können -, sondern ein Stück weiter unten. Der Schlauch tanzte also in meinen Händen unkontrolliert hin und her, und der Strahl verwandelte sich in eine wild herumwirbelnde, glitzernde, mich komplett durchnässende Schlange.
Ich hatte großes Vergnügen an diesem Spiel, ging ganz darin auf – bis mich die Erwachsenen verspotteten für meine Ungeschicklichkeit. Die Freude erstarb im selben Moment, und bis heute fasse ich keinen Gartenschlauch an ohne ein latentes Stressgefühl, und ohne dass mir diese Episode wieder einfällt. „Ich weiß nicht, wie man richtig mit einem Schlauch umgeht“, ist ein Glaubenssatz, der sich mit tief eingeprägt hat.
Mit Glaubenssätzen und somit einer Begrenzung unserer Wahrnehmungen paaren sich sämtliche physische Schutzpanzer, die wir uns im Laufe unseres Aufwachsens zulegen.
In meiner kunsttherapeutischen Praxis begegnet mir immer wieder der Kloß in der Kehle. Seine Ursachen sind vielfältig und von Mensch zu Mensch verschieden. Vielleicht wurde das Kind einst gezwungen allzu viel zu schlucken und fing an, sich instinktiv dagegen zu sträuben. Der Kloß in der Kehle schützte es davor zu realisieren, wie ekelhaft der Geschmack dessen, war, was ihm eingeflößt und eingetrichtert wurde. Das kann alles Mögliche sein – ungenießbare Speisen, eine vergiftete Familienatmosphäre, permanente Reglementierungen bis hin zu Sperma im Fall von sexualisierter Gewalt. Der Kloß blockierte den Impuls zu speien – die natürliche Reaktion, wenn unser Geschmackssinn Alarm schlägt. Dies musste sich das Kind jedoch aus Angst vor Strafe verbieten. Das Heruntergewürgte verdichtete sich im Körper, hatte zwar ständig die Tendenz hervorzubrechen, musste aber um jeden Preis unten gehalten werden. Das Gewebe im Kehlkopfbereich begann, gegen den natürlichen und heilsamen Drang des Spuckens und Speiens anzuarbeiten, drängte das Aufsteigende – Tränen, Zorn, Abscheu, Verzweiflung – wieder und wieder zurück, verhärtete auf diese Weise zu einem Kloß, der oft nur energetisch von den Betroffenen wahrgenommen wird, sich aber auch zu handfesten körperlichen Symptomen – z.B. Schilddrüsenproblemen – auswachsen kann. Der Vorgang des Herunterschluckens wiederholt sich tausendfach, wird zu einem alltäglichen „normalen“ Geschehen und ist verbacken mit Glaubenssätzen, die kaum noch ins Bewusstsein dringen, im wahrsten Sinne des Wortes in Fleisch und Blut übergegangen sind: „Ich darf nichts von mir geben, den Mund nicht aufmachen, mich nicht verraten, darf niemanden anschwärzen… u.v.m .“ Was sich unterhalb des Kloßes im Körper abspielt, wird oft erst dann wahrgenommen, wenn das Verdauungssystem aufbegehrt in Form von Druck- und Spannungsgefühlen, Sodbrennen, Übelkeit, Schmerzen oder ernsthaften Erkrankungen.
Diese persönlichen Traumata verstärken jedoch nur den Prozess der Abspaltung, der kollektiv im Gange ist, dem sich eine Generation nach der anderen unterwirft, und der vom staatlichen Schulsystem massiv befördert wird. Gerade in der Schule wird Kindern die Kunst, ihre Lebenswirklichkeit unvoreingenommen durch ihre Sinne zu begreifen, über kurz oder lang gründlich ausgetrieben.

Sie lernen stattdessen stillzusitzen, der Welt über den Kopf beizukommen, werden ständig dafür bewertet, inwieweit ihnen das gelingt, und so daran gehindert, wirklich zu lernen.
Kinder müssen nicht zum Lernen erzogen werden; sie lernen von Natur aus, ganz von alleine vom ersten Tag ihres Lebens an.

Der Versuch, ihnen das Lernen beizubringen, führt dazu, dass sie das Lernen verlernen. Denn Lernen bedeutet die Welt stets neu und frisch zu erfahren – und nicht vorgekautes Wissen aus der Vergangenheit in sich reinstopfen und gemäß Lehrplan wieder ausspucken zu müssen. Letzteres führt dazu, dass aus den Schulen viele gelangweilte, depressive und oft gebrochene Jugendliche entlassen werden.
Hinzu kommt, dass es seit Jahrzehnten üblich ist, schon Neugeborene der permanenten Reizüberflutung unserer von Hektik geprägten Zivilisation auszusetzen. Statt das Kind eng am Körper zu tragen, es im Rhythmus der eigenen Gangart zu wiegen und es erstmal behutsam mit der Natur vertraut zu machen, werden Säuglinge oft ohne schützende Hülle um das hochempfindliche Köpfchen im Wagen durch den Straßenverkehr oder den Supermarkt gekarrt. Die Sinneseindrücke stürzen mit solcher Vehemenz auf das gerade zur Welt gekommene Wesen ein, dass es ihm unmöglich ist, diese auch nur annähernd zu verarbeiten. Hat es dann auch noch einen Schnuller im Mund oder wird ihm dort bei jeder Gelegenheit das Fläschchen reingeschoben, fehlt dem Kind die Möglichkeit, sich wenigstens durch Geschrei der sich aufstauenden Spannungen zu entledigen, zu signalisieren, dass es dringend körperliche Nähe und Halt braucht. Beste Voraussetzungen, in späteren Jahren mit einem Kloß in der Kehle herumzulaufen…
Sobald die Kinder ein wenig älter sind, werden sie auch noch mittels der digitalen Medien permanent mit fertigen Bildern in rasanter Geschwindigkeit überschwemmt – dies auf Kosten ihres natürlichen Spieltriebes.
Da ich fast täglich im Öffentlichen Nahverkehr unterwegs bin, werde ich oft Zeugin herzzerreißender Szenen: Aufgeweckte Kinder kleben am Zugfenster, sind gebannt von all den Wundern, die an ihnen vorbeifliegen, versuchen ihre Aufregung und Freude mit ihren Eltern zu teilen, stellen tausend Fragen. Mama und Papa aber sind absorbiert von ihren Bildschirmen, reagieren entweder gar nicht oder genervt und wenden sich ihren Kindern erst dann zu, wenn diese sich an sie kuscheln und ebenfalls auf das Display starren.

Oder aber ihnen wird das Smartphone in die Hand gedrückt, damit sie endlich Ruhe geben.
Als Kind, das im Fernsehen bloß das „Sandmännchen“ anschauen durfte, stand ich häufig hilflos dabei, wenn meine Spielgefährten „Bonanza“-, „Black Beauty“- oder „Sesamstraßen“-Geschehnisse miteinander teilten, schier von nichts anderem mehr sprechen konnten. Später im Laufe meiner Berufstätigkeiten erlebte ich erst recht Kinder, die anstelle von eigenen Abenteuern mit hoher Emotionalität und einer großen Detailtreue die Inhalte von Filmen und digitalen Spielen wiedergaben.
Wer unter solchen Bedingungen groß wird, hat später sehr schlechte Voraussetzungen, sich auf die eigene Wahrheit zu besinnen, der eigenen Wahrheit zu folgen, denn diese wurde schon begraben, bevor sie sich überhaupt in Ansätzen entwickeln konnte. Das Bewusstsein der Kinder wird regelrecht gekapert, und sie wachsen zu Sklaven und Sklavinnen heran, die nur wenige Chancen haben, ihre eigene Unfreiheit, das Ausmaß ihres Fremdbestimmtseins zu realisieren.
In diesem Zusammenhang dürfen wir Erwachsene uns fragen, welche Art von Vorbild wir hier abgeben, welche Rolle die digitalen Medien in unserem Leben spielen, wie sehr auch wir uns von ihnen in einer künstlichen Welt gefangen halten lassen, inwieweit wir unsere Wahrnehmung des Lebendigen der Ablenkung durch etwas Totes opfern. Realisieren wir unsere Abstumpfung ohne uns dafür zu verurteilen, denn tatsächlich dient sie auch unserem Schutz. Abstumpfung ist das Ergebnis von Abspaltung, Abspaltung wiederum die Folge von Wahrnehmungen, die nicht integriert werden konnten. Es scheint, als ließe sich nur mittels der Abspaltung der uns umgebende Horror, den wir gemeinhin als Normalität betrachten, annähernd ertragen. Zugleich führt unsere Abspaltung dazu, dass wir den Horror willfährig fördern.
Ohne diese Abspaltung gäbe es weder Selbstzerstörung, weder Kleinkriege noch Weltkriege noch den unsäglichen Krieg gegen die Natur, gegen das Leben selbst.
Würden wir wirklich wahrnehmen, was wir tun, und wie es uns dabei geht, könnten wir uns vielleicht nicht mal mehr so ohne weiteres ins Auto setzen und viele andere Dinge tun, die wir für völlig normal und alternativlos halten.
Somit rüttelt das Band des Fürwahrnehmens an den Grundfesten – d.h. an den „Wahrheiten“ – unseres Alltags und letztlich unserer Zivilisation. Sobald wir dieses Band ins Schwingen bringen, setzt sofort die Abwehr ein, die es unter allen Umständen zum Stillstand bringen will – sowohl bei uns selbst als auch in unserer Umgebung.

Deshalb ist es dringend geboten, unsere schädigenden Schutzmechanismen in aller Wahrhaftigkeit zu hinterfragen und zu forschen, wie wir für einen selbstbestimmten energetischen Schutz sorgen können, einen Schutz, der uns und unserer Wahrnehmung dient anstatt uns mit unserer Sinnenfreude aufzufressen. (Dazu mehr in einem späteren Kapitel).
So empfiehlt es sich, mit dem Band des Fürwahrnehmens in aller Behutsamkeit vertraut zu werden, ganz allmählich den Körper wieder zu erwecken als das hochempfindliche Instrument, das auf jeden Reiz im HIER und JETZT unmittelbar reagiert – mit angenehmen oder unangenehmen Empfindungen. Nehmen wir sowohl das Angenehme als auch das Unangenehme fürwahr und lassen uns davon mehr und mehr leiten! So folgen wir unserer Wahrheit und bringen sie zugleich in die Welt.
Wahrnehmung setzen wir in der Regel gleich mit den 5 Sinnen Hören, Sehen, Schmecken, Tasten, Riechen -, so wie sie uns in unserer Schulzeit beigebracht wurden.
Und tatsächlich ermöglichen uns diese 5 Sinne eine unerschöpfliche Fülle einzigartiger Erfahrungen.

Kein Sinneseindruck ist wie der andere. Jedes Mal, wenn wir wirklich hinschauen, lauschen, schnuppern, schmecken, berühren oder uns berühren lassen, begegnet uns die Welt, begegnet uns das Leben vollkommen neu. Wie schön ist es, den Morgenwind auf der Haut zu spüren, das Zwitschern der Schwalben zu vernehmen, ihre blitzenden Leiber in der aufgehenden Sonne unter dem blauen Himmel in wilden Mustern herumschießen zu sehen, den Geruch der sich erwärmenden Erde, der sich öffnenden Blüten einzuatmen… Wann immer wir uns diese Vielfalt von Wahrnehmung, diese Offenheit erlauben, erleben wir einen Moment der Neugeburt, werden wir eins mit der Schöpfung.
Jede Wahrnehmung berührt eine Facette in unserem Inneren, die genau in diesem Moment in Schwingung gerät und aufleuchtet. Vielleicht erwacht grundloses Glück in uns oder Reisesehnsucht, wenn wir die Schwalben erleben? Tatsächlich ist es oft schwer, Worte zu finden für das, was in uns zu vibrieren beginnt, sobald wir bewusst wahrnehmen, insbesondere dann wenn unser Geruchssinn angesprochen wird. Düfte wirken direkt bis in die Tiefe unserer Zellen hinein; da gibt es keine Möglichkeit der Abwehr; wir reagieren unwillkürlich und vollkommen ehrlich.

Welch ein umwerfendes Ereignis kann es außerdem sein, nach längerem Fasten wieder Nahrung zu uns zu nehmen.
Voll umfänglich realisieren wir, dass wir nicht bloß Materie in unseren Mund stopfen, sondern schmecken die Essenz dessen, womit wir uns speisen… nähern uns der Erkenntnis: „Du bist, was du isst.“
Viele Gewichtsprobleme ließen sich meines Erachtens vermeiden, wenn wir das Band des Fürwahrnehmens beim Essen am Start hätten.
Und unser Tastsinn erstreckt sich von der hochsensiblen Kopfhaut bis hinunter zu unseren feinfühligen Fußsohlen. Kürzlich berichtete eine Kursteilnehmerin von ihren Erfahrungen mit dem Nacktwandern…wie sie es genoss, beim Gehen am ganzen Leib von den Farnwedeln gestreichelt zu werden.
In diesen 5 Sinnen steckt ein Entwicklungs- und Erfahrungspotential, das leider zu großen Teilen brachliegt, da wir in der Regel hauptsächlich über die Augen wahrnehmen.
Für Jaques Lusseyran, der im Alter von 8 Jahren nach einem Unfall erblindete, eröffnete sich nach dem Verlust seines Augenlichtes nach und nach eine neue Welt: „Wie hatte ich all die Zeit leben können, ohne zu wissen, dass alles auf der Welt eine Stimme hat? Nicht nur die Dinge, denen man eine Sprache zugesteht, nein, auch die anderen: die Torwege, die Mauern der Häuser, die Balken, die Schatten der Bäume, der Sand und das Schweigen…Seitdem ich blind war, konnte ich keine Bewegung mehr machen, ohne eine Flut von Geräuschen auszulösen. .. Wenn ich einen Schritt machte, weinte und sang der Fußboden – zweierlei Stimmen konnte ich vernehmen -, und dieses Lied pflanzte sich fort…und erzählte mir von der Tiefe des Zimmers. Wenn ich unvermittelt sprach, zitterten die Scheiben…Wurde die Türe vom Wind zugestoßen, knarrte sie sie nach Wind; wenn eine Hand sie zuschlug, knarrte sie menschlich… Als ich meine Augen noch hatte, waren meine Finger steif und am Ende der Hände halb abgestorben, gerade recht, die Bewegung des Greifens auszuführen. Jetzt hatte jeder von ihnen seine Initiative… Meine zum Leben erwachten Hände führten mich in eine Welt hinein, in der alles ein Austausch von Druck war. Dieser Druck verdichtete sich zu Formen, und alle diese Formen hatten einen Sinn… die Tomaten im Garten zu befühlen, den Vorhangstoff oder einen Erdklumpen, heißt, sie zu sehen, fast ebenso genau und vollständig zu sehen, wie es die Augen vermögen; mehr noch, es heißt, sich auf sie einstellen, gleichsam den elektrischen Strom, den sie enthalten, an jenen Strom, mit dem wir geladen sind, anzuschließen…nicht mehr vor den Dingen…sondern mit ihnen zu leben…“…“ (aus: Jack Kornfield und Christina Feldman, Geschichten des Herzens, Seite 105 -109)
Lusseyrans Worte machen deutlich, dass das Feld unserer unserer sinnlichen Wahrnehmungen grenzenlos ist, das Tor in die Unendlichkeit. Jeder Raum, den wir auf diese Weise betreten, erweist sich als Tür zu einem weiteren; wir tauchen ein in irdische wie kosmische Mysterien, die das, was wir bisher dachten, zerbröseln lassen. Das Band des Fürwahrnehmens geht also einher mit dem Mut, wieder und wieder ins Unbekannte zu springen, der Bereitschaft zu sterben (siehe hierzu auch Kapitel 1- Die 13).
Tatsächlich erfasst das Konzept der 5 Sinne dieses Phänomen nur unzureichend.
Rudolf Steiner erweiterte es auf 12 Sinne (https://de.wikipedia.org/wiki/Sinneslehre_Rudolf_Steiners), wovon ich exemplarisch den Gleichgewichtssinn hervorheben möchte. Gesteuert wird er u.a. durch drei Bogengänge im Innenohr. Mit ihm nehmen wir die Wirkung der Schwerkraft wahr sowie unsere Körperhaltung und orientieren uns im Raum. Anders als die landläufigen 5 Sinne steht er uns nicht schon ab Geburt vollständig zur Verfügung, sondern entwickelt sich erst im Laufe unserer Kleinkinderzeit, indem wir krabbeln, uns aufrichten und laufen lernen.
Der Gleichgewichtssinn hat Einfluss auf unsere Fähigkeit, emotional in Balance zu bleiben sowie in sozialer Hinsicht mit Leichtigkeit und Anmut unseren Raum einzunehmen und dabei wach für die Grenzen anderer Wesen zu sein.

Es empfiehlt sich, vor allem mit zunehmendem Alter diesen Sinn zu trainieren. Übungen dazu gibt es en masse, und sie dürfen natürlich auch selbst entwickelt werden.
Mittels des Gleichgewichtssinnes lernen wir, die Sprache unseres Körpers zu „hören“ und zu verstehen, nehmen unsere Panzerungen genauso wahr wie die Impulse, die uns helfen, die Verhärtungen zu lösen. Der Gleichgewichtssinn ist ein feines Sensorium, das uns ermöglicht, die verlorene natürliche Balance zurückzugewinnen, indem wir uns den stets vorhandenen physikalischen Kräften öffnen. Dann wird beispielsweise das Stillstehen nicht zu einem statischen und oft anstrengenden Akt, indem wir mit aller Selbstbeherrschung starr und steif unser Aufrechtsein manifestieren, sondern zu einem feinen Tanz, der von ganz alleine geschieht – als seien wir ein Halm im Wind. Unser Körper tariert sich ohne unser Zutun unablässig aus.
Diese Erfahrung, die ich selber übrigens zum ersten Mal in meinem Leben machte, als ich mich voll und ganz auf das Energiefeld eines Baumes einließ, beschreibt auch Heike Pourian: „Deutlich konnte ich meine Vertikalachse spüren. Sie kam irgendwo aus der Erde heraus, ging direkt durch mich durch und reichte weit in den Raum über mir, dann wieder schien sie von oben nach unten zu verlaufen. Es war, als könnte ich mich niederlassen in dieser Ausrichtung…Meine Muskeln entspannten sich, und je mehr sie losließen, desto leichter konnte ich ein feines Schwanken ausmachen…Es war angenehm, mich so schaukeln zu lassen von einer Kraft, die immer da war.“ (Heike Pourian, Wenn wir wieder wahrnehmen, Seite 189)
Auch die für mich nach wie vor bedeutsamen Lehren der Twisted Hairs (Schamanen und Medizinleute der Schildkröteninsel, d.h. des ganzen amerikanischen Kontinentes) übermitteln ein erweitertes Paradigma bezüglich der sinnlichen Wahrnehmung, sprechen neben dem Tast-, Geschmacks- und Geruchssinn von 10 Augen und 5 Ohren, die über den ganzen Körper verteilt sind und uns zu einer vielschichtigen Wahrnehmung befähigen. Herausstellen möchte ich das Herzohr sowie das Herzauge, von deren Existenz die meisten von uns ein intuitives Wissen haben.

Berühmt sind die Worte von Antoine de St-Exupery im Kleinen Prinzen: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Diese Aussage lässt sich vom Auge auf das Ohr übertragen.
Wenn wir das Herzauge aktivieren wollen, behalten wir unsere beiden physischen Augen im Kopf offen, senken aber das Bewusstsein ab in den Herzbereich. Mit etwas Übung bemerken wir, dass Aspekte in Erscheinung treten, die unsere physischen Augen allein nicht erfassen können. Wir bleiben nicht hängen am oberflächlichen Eindruck und den damit verknüpften Bewertungen, sondern erhaschen einen Blick auf das, was dahinter verborgen ist – auf das „wahre“ Wesen.
Das Herz sieht die Wahrheit.
Betrachte ich beispielsweise die reifenden Hagebutten vor meinem Fenster ausschließlich mit den beiden physischen Augen im Kopf, erhasche ich einen Eindruck von Zinnoberrot. Die Hagebutten üben eine angenehme ästhetische Wirkung auf mich aus vor allem im Zusammenspiel mit den wuscheligen grauweißen Samenständen der benachbarten Waldrebe.

Öffne ich mein Herzauge, beginnt sich die Hagebutte mir mitzuteilen; ich erahne die Kraft, die sie in ihrem Inneren birgt, spüre, wie sie mit ihrem knalligen Rot die kostbaren Samen im Inneren schützt, bekomme intuitiv ihre Heilkräfte mit.
Besonders gut lässt sich das Herzauge trainieren, wenn uns etwas in den Blick gerät, was wir für lästig und unangenehm halten … eine Mehlmotte zum Beispiel: Unser Herzauge sieht hier nicht die geringste Gefahr, ruft nicht zur umgehenden Bekämpfung auf, sondern erkennt das Lebensrecht dieses unscheinbaren und zarten Wesens uneingeschränkt an…und sieht zugleich seine Power und Zielstrebigkeit in Form des winzigen Pfeils, den es verkörpert.;)
Voraussetzung für diesen Prozess ist natürlich die Leichtigkeit und Offenheit des Herzens. Fehlt diese – ist das Herz also schwer, verschlossen, verzagt, verängstigt (auch dies lässt sich über die das Band des Fürwahrnehmens herausfinden) braucht es zunächst Heilung und einen zuverlässigen Schutz. Wer daran interessiert ist, das Herz als Wahrnehmungsorgan zu erwecken und zu entwickeln, darf sich gerne an mich wenden. Mit Freude biete ich meine Begleitung an – nicht zuletzt deshalb, weil wir so die Basis schaffen für eine friedvolles Zusammenleben, eine wahrhaftige und fruchtbare Kommunikation.

Ein hervorragendes Instrument hierfür ist außerdem das Herzohr:
Um das Herzohr zu öffnen, empfiehlt es sich die Augen zu schließen oder damit ruhig an einem Punkt zu verweilen und dann – wie bereits beschrieben – das Bewusstsein ins Herz hinabgleiten zu lassen.
Lauschen mit dem Herzen kann Wunder und Heilung bewirken.
Michael Endes Momo lebt es uns vor: „Momo konnte so zuhören, dass dummen Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanken kamen. Nicht etwa, weil sie etwas sagte oder fragte, was den anderen auf solche Gedanken brachte, nein, sie saß einfach nur da und hörte zu, mit aller Aufmerksamkeit und Anteilnahme… sie konnte so zuhören, dass ratlose und unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wussten, was sie wollte. Oder dass Schüchterne sich plötzlich frei du mutig fühlten. Oder dass Unglückliche zuversichtlich und froh wurden…“ (Seite 15/16)
Und hier tritt die Bisanz des Fürwahrnehmens zutage: Menschen, die wieder in Einklang kommen mit ihrer inneren Wahrheit, sind gefährlich für die grauen Herren, die Zeitdiebe, die sich an der gestohlenen Lebensenergie derer mästen, die in ihre Fänge geraten. In diesen Fängen befindet sich momentan die überwältigende Mehrheit von uns. Umso wichtiger ist es, in unserem Alltag Räume zu schaffen, an deren Pforten sich die grauen Herren umgehend in Nichts auflösen. Wegweisend und ermutigend für mich ist in diesem Zusammenhang die regelmäßige Teilnahme an der von Caya und Matthias Graf initiierten „Gemeinschaft der Lauschenden -https://www.cayamatthias.com/angebote/ :
Indem wir in der Stille einen Kreis bilden, entsteht ein Raum zwischen uns und um uns herum… mit offenen Ohren und offenem Herzen horchen wir hinein in diesen Raum, der zu uns spricht, und in den hinein wir antworten ohne Überlegung: Die Stimme findet ihren eigenständigen Weg,– die entstehenden Klänge verweben sich, spielen miteinander, bilden Teppiche, erschaffen Welten… so ergibt sich eine unmittelbare lebendige Kommunikation jenseits der Worte, bei der jede*r gehört und getragen wird, das Zarte genauso willkommen ist wie das Kraftvolle…wir treten miteinander in einen tiefen heilsamen Kontakt jenseits von Dominanz, Unterordnung und Missverständnissen.
Wo immer das Band des Fürwahrnehmens sich entfaltet und ausbreitet, entstehen – gleich den Imagozellen im Körper der verpuppten Raupe, die den künftigen Schmetterling vorwegnehmen (siehe hierzu https://raupe-zum-schmetterling.de/) – inmitten einer kranken und lähmenden Normalität Zellen einer vollkommen neuen, friedlichen Welt.
Das Band des Fürwahrnehmens befreit uns von der Selbstentfremdung, denn wir spüren in aller Feinheit, was uns wohltut, und was uns schadet. Gleichermaßen erlöst es uns von der Illusion des Getrennt-Seins: Uns gehen alle Sinne auf für unsere Mitmenschen wie für all unsere Verwandten, die Tiere, Pflanzen und Mineralien, die gesamte Schöpfung, das große Netz des Lebens. Dieses Netz entwickelt und wandelt sich permanent jenseits von Beurteilungen, Hierarchien und Zielvorgaben. Jedes Wesen wirkt gleichwertig mit daran, flicht seine einzigartige kostbare Wahrheit hinein. Dieses Netz ist inzwischen zwar durch unsere menschliche Arroganz und Habgier schwer beschädigt, doch zugleich leicht zu reparieren, wenn wir gleich einem Weberschiffchen, einer Häkelnadel oder einem Knüpfhaken das Band des Fürwahrnehmens zum Einsatz bringen. Denn Verbundenheit ist der Urzustand des Lebens, der sich von alleine wiederherstellt, sobald wir bereit sind, dies zuzulassen.

- Erstelle eine Liste Deiner unerschütterlichen Wahrheiten.
- Wie sieht Dein Gebrauch digitaler Medien aus? Wie oft schießt du Fotos statt im Prozess der sinnlichen Wahrnehmung zu bleiben?
- Lies oder höre das Kapitel nochmal und nimm dabei wahr, welche Resonanz einzelne Passagen in deinem Körper erzeugen.
- Beobachte dich selbst dabei, wie oft Du – statt die Realität wahrzunehmen – Dir in Gedanken ein Bild davon zurechtzimmerst und dies für die Wahrheit hältst. Wenn du willst, führe Buch darüber, um Dir auf die Schliche zu kommen. 😉
- Mache einen Spaziergang und schließe dabei immer wieder die Augen. Nimm wahr, wie du mit all deinen anderen Sinnen deinen Weg findest, und wie sich deine Umgebung dir mitteilt.
- Experimentiere mit dem Herzohr und dem Herzauge. Viel Spaß dabei!

Kapitel 5 – Das Band des KörperSeins

Das Band des KörperSeins bringt uns unmittelbar auf die Erde, in unsere physische Substanz und ermöglicht uns, diese von innen heraus zu beleben, zu beseelen.
Das ist keineswegs selbstverständlich. Dank unserer Erziehung, unserer Prägungen durch eine Gesellschaft, die sich dem Profit verschrieben hat, werden wir beherrscht von der Vorstellung des Habens und des Haben-Wollens, dem darunter liegenden Mangelbewusstsein und einer mehr oder minder verkleideten Gier.
Dieses Denken übertragen wir selbstverständlich auf unseren Körper, was sich umgangssprachlich niederschlägt:
Wir sprechen davon, einen Körper zu haben, nicht Körper zu sein.
Allein durch diese Formulierung manifestieren wir ein Getrennt-Sein von unserem Körper, das uns dazu bringt, unseren Körper – wie alles was wir zu besitzen glauben – als Objekt zu behandeln und zu gebrauchen. Wir benutzen ihn als Vehikel, um unsere Ziele zu erreichen, und oft genug als Statussymbol, das permanent optimiert werden muss.

Zugleich fühlen wir uns unwiderruflich an unseren Körper gekettet. Er ist das Eigentum, das uns in die Wiege gelegt wurde, und das wir bis zum Ende unseres Lebens nicht loswerden oder austauschen können – eine Bürde.
Dass unser Körper ein Eigenleben hat, seinen eigenen Gesetzen folgt, ignorieren wir weitgehend – solange bis es sich allzu störend bemerkbar macht etwa durch das Auftreten von Unwohlsein, Schmerzen und Krankheiten oder auch einfach nur durch Müdigkeit, Leistungsabfall und altersbedingte Verfallsprozesse:
Dann bereitet uns der Körper Ärger, wird erst recht zur Last. Er spiegelt uns unsere Unfähigkeit angemessen, für unseren Besitz zu sorgen, und um der damit verbundenen Scham zu entgehen, versuchen wir unseren schadhaften Körper so schnell wie möglich zu reparieren – sei es durch Fitnessprogramme, Diäten oder medizinische Behandlungen bis hin zur Entfernung oder Auswechslung einzelner Teile.

Das Herumbessern an unserer leiblichen Erscheinung kann sich zu einer Besessenheit ausweiten: Manisch sind wir damit beschäftigt, uns den Körper untertan zu machen und erfahren dabei immer wieder Frustration, weil es niemals wirklich gelingt und wir insgeheim wissen, dass wir diesen Kampf nicht gewinnen können.
Denn das Ziel unserer körperlichen Existenz ist der Tod.
Am Ende haben wir den Körper wie alle unsere Besitztümer zurückzulassen.
Während unsere anderen Besitztümer uns jedoch potentiell überdauern und vererbt werden können, bleibt von unserem Körper nichts übrig- egal was wir mit ihm anstellen, und mit wievielen Implantaten wir ihn ausstatten. Sobald wir zum letzten Mal ausgeatmet haben, setzt der Verwesungsprozess ein. Der Körper, den wir zu beherrschen suchen, trägt von Geburt an den Keim des Todes in sich.
Damit spiegelt er uns letztendlich den Irrsinn unseres Besitzstrebens, konfrontiert uns damit, dass jede Sicherheit, die wir auf diese Weise anstreben, genau in dem Moment, in dem wir ihrer habhaft werden, bereits hinfällig ist. Je mehr wir uns an das klammern, was wir zu besitzen glauben, um so mehr erleben wir unseren unberechenbaren Körper als Bedrohung.
Dadurch berauben wir uns jeglicher Stabilität, denn Stabilität kann ausschließlich physisch erfahren werden. (Mehr dazu in einem der folgenden Artikel) Uns fehlt der sichere Grund.

Die Angst, die Kontrolle über unseren Körper zu verlieren, von unserer körperlichen Realität besiegt zu werden, macht uns hochgradig manipulierbar. Willfährig liefern wir unsere Körper einer an Gewinnmaximierung orientierten Gesundheitsindustrie aus. Wir misstrauen unserem Körper, verstehen ihn als Feind, der permanent mit den verschiedensten Vorsorgemaßnahmen in den Griff genommen werden muss.
Geben wir uns keinerlei Illusionen darüber hin, wie tief das Besitzdenken bezüglich unseres Körpers, die damit verbundene Feindseligkeit in uns allen stecken, wie sehr wir damit verbacken sind. Die Entfremdung von unserem Körper ist wesentlicher Bestandteil unserer abendländischen christlichen Tradition, und es wird einige Generationen brauchen, um uns davon wirklich zu befreien. Selbst bei Menschen, die über eine gute Körperwahrnehmung und/ oder über jahrelange Körpererfahrung verfügen (mich selbst eingeschlossen) schlägt in kritischen Situationen das Konzept des Körper-Habens durch. Und manchmal werden ausgefeilte Körperpraktiken sogar genutzt, um Angst zu verdecken und den Körper in Schach zu halten. Auch eine vollendete, vielleicht sogar atemberaubende Körper-Beherrschung macht den Körper letztlich zum Objekt.
Um zu einer anderen Körpererfahrung zu gelangen und sich mehr und mehr diesbezüglich auszudehnen ist es wichtig, dass wir uns aufrichtig mit unseren Prägungen konfrontieren, dass wir uns selbst dabei auf die Schliche kommen, wo und wie wir dem Konzept des Körper-Habens anhaften. Nur wenn wir eine genaue Kennung davon entwickeln, wie wir uns einerseits über unseren Körper aufschwingen und uns ihm andererseits ausliefern, sind wir in der Lage, dieses Muster nachhaltig zu brechen und eine andere Lebenswirklichkeit zu manifestieren.
KörperSein ist ein Zustand, der sich kaum in Worten beschreiben lässt, und der auch weit darüber hinausgeht, unseren Körper als Heimstatt unserer Seele zu betrachten. Zwar kann dies ein wichtiger Zwischenschritt sein, um uns mit unserem Körper anzufreunden, doch das Konzept des Habens und Habenwollens ist mit einem Verständnis vom Körper als Haus der Seele noch nicht außer Kraft gesetzt. Auch ein Haus gilt gemeinhin als Besitz.
KörperSein bedeutet letztendlich ekstatische Verschmelzung mit unserem Leib.

Vielleicht, hoffentlich kennen wir das aus unserer Kindheit. (Siehe hierzu auch Kapitel 3 – die Ausführungen über Leib/Liebe/Leben). Vielleicht, hoffentlich erinnern uns daran, wie wir zumindest zeitweilig völlig eins waren mit unserem Körper, wie uns dessen Möglichkeiten faszinierten, wie wir nicht genug davon kriegen konnten, diese auszuprobieren und zu erweitern: „Schau mal, Mama, wie schnell ich rennen kann!“ schrien wir und galoppierten los mit unbändiger Kraft. Wir erprobten unsere Kletter- und Balancierkünste, rasten freihändig auf dem Fahrrad bergab, wir schaukelten in den Himmel hinein , bis wir uns fast überschlugen, wir wälzten uns im Matsch und ließen uns genussvoll mit eiskaltem Wasser abspritzen, wir schlugen Purzelbäume; wenn wir uns anschlichen spürten wir das nicht nur in der Fußsohle sondern bis in die Nasenspitze hinein; wir kreischten und heulten, bis uns selber die Ohren klingelten, und wir sie uns unbedingt zuhalten mussten, um weitermachen zu können.
Wenn Erwachsene sie nicht reglementieren, nicht ihre eigenen Unsicherheiten, Ängste und Schamgefühle an sie weitergeben, genießen Kinder ihren Körper schrankenlos. Sie machen sich keine Gedanken darüber, ob sie gut aussehen, ordentlich gekämmt und sauber gekleidet sind. Dass die neue Hose schon ein Loch hat, der teure Schuh zerschlissen und die weiße Strumpfhose rabenschwarz geworden ist, hat im Grunde keine Bedeutung, ist nur deshalb relevant, weil es daheim deshalb u.U. Ärger geben wird.
Zu den tragischen Entwicklungen der Gegenwart gehört es, dass nur noch wenige Kinder die Freiheit haben, ihr Körpersein auf diese unbefangene Weise zu erfahren. Ihr permanentes Überwachtwerden wie auch der mit Abhängigkeit einhergehende Gebrauch digitaler Medien führt dazu, dass früher als in anderen Generationen die Spaltung einsetzt, und der eigene Leib zum Fremdkörper mutiert. Dies wird eine nachhaltige Schwächung unserer menschlichen Gesellschaft zur Folge haben, denn so wachsen tief verunsicherte, krankheitsanfällige und suchtgefährdete Erwachsene heran.
Was KörperSein heißt leben uns außerdem die wilden Tiere vor.

Sehr eindrucksvoll beschreibt das Clarissa Pinkola Estés am Beispiel von Wölfen: „Sie alle, die Ausgemergelten wie die prachtvoll Fetten, die Hochbeinigen wie die Schiefnasigen sind auf selbstverständliche, völlig unreflektierte Weise schön… Hoch im Norden habe ich einmal eine alte Wölfin beobachtet, die nur 3 Beine hatte, aber sie war die einzige im Rudel, die sich durch eine schmale Felsspalte zwängen und die Blaubeeren dahinter erreichen konnte. Einmal sah ich einen Wolf zum Sprung ansetzen und dann in einem solchen Satz durch die Luft fliegen, dass der silbrige Streifen noch eine Sekunde später sichtbar war. Ich erinnere mich an eine junge Mutter mit noch hängendem Bauchfell, die mit der Zierlichkeit einer Tänzerin durch einen moosigen Tümpel watete. Keinem Wolf würde es je einfallen, sich mit einem bestimmten Schönheitsideal zu vergleichen, und dann winselnd auf dem Bauch zu kriechen, weil sein Schwanz vielleicht nicht ganz so buschig ist, wie es das Ideal verlangt.“ (Die Wolfsfrau, München, 1993, Seite 240)
KörperSein beinhaltet eine Anmut, die von innen kommt und frei ist von jeglicher Scham.

KörperSein bedeutet lustvoll einzutauchen in den Leib, und jede Zelle zu erfüllen mit vibrierender Lebendigkeit.
KörperSein bedeutet freizuwerden im Kopf und zwar vor allem von jeglichen Be- und Verurteilungen hinsichtlich unseres Leibs.
KörperSein bedeutet, mit unserem Leib als Instrument unserer Seele voll und ganz zu verschmelzen, ihn mit einem bedingungslosen Ja zu tränken.
KörperSein bedeutet, uns nicht zu bekümmern über die Versehrtheit unseres Leibes, und unsere Handicaps in Fähigkeiten zu verwandeln.
Dann wird es möglich, dass ein einbeiniger Mann seine schnaufenden Feriengäste mit eindrucksvoller Behendigkeit auf steinigen Pfaden ins Gebirge hinaufführt. Oder dass eine etwas aus der Form gegangene und noch dazu unvorteilhaft gekleidete Frau sich in eine stimmgewaltige Göttin verwandelt, deren Erotik manche perfekt gestylte Geschlechtsgenossin alt aussehen lässt.
KörperSein bedeutet, dass wir damit aufhören, von außen an unserem Körper herumzudoktern. Wir vertrauen seiner unerschöpflichen Weisheit sowie seinen unerschöpflichen Selbstheilungskräften.
Ich ahne: Die Feststellung, die bezüglich unseres Gehirns im Umlauf ist und Albert Einstein zugeschrieben wird – nämlich dass wir nur einen Bruchteil dessen Kapazität nutzen – gilt erst recht für unseren Körper. Ihm wohnen Fähigkeiten inne, die sich zurzeit noch jenseits unseres Vorstellungsvermögens befinden, die brachliegen, weil wir uns jede Menge physischer Blockaden zugelegt und uns an diese gewöhnt haben.
Alle Menschen, die ihren Körper wertschätzen und physische Erfahrungen zu genießen wissen, sind grundsätzlich fähig und bereit, KörperSein immer wieder zu erfahren.

Dem Einen geling es vielleicht beim Fußball, wenn sich sein Spiel in Ballkunst verwandelt, wenn er sich mit instinktiver Gewandtheit über den Platz bewegt, eine Geschicklichkeit und Treffsicherheit beweist, die er sich selbst nicht erklären kann. Der Anderen glückt es beim Trommeln, indem sie mit ihrem Instrument verschmilzt und sich von einem größeren Rhythmus zum Pulsieren bringen lässt. Oder Du machst die Erfahrung, in der Finsternis mit schlafwandlerischer Sicherheit durch einen Wald gehen zu können, weil deine Füße den Pfad von alleine finden. Beispiele dafür gibt es wie Sand am Meer.
KörperSein erleben wir außerdem bei von Leistungs- und Erwartungsdruck befreiten sexuellen Begegnungen, wenn wir uns vorbehaltlos der zärtlichen Berührung und unserer Lust hingeben, wenn die orgastische Energie nicht im Genitalbereich festgehalten wird, sondern den gesamten Leib durchströmt und in Vibration versetzt.

KörperSein stellt sich ein bei Geburtsprozessen, wenn die Presswehen alle Barrieren wegfegen, wenn es der werdenden Mutter gelingt, sich mit der gewaltigen Kraft in Einklang zu bringen, die der Körper freisetzt, und die ihn zugleich mitreißt.
KörperSein ist letztendlich eine spirituelle Erfahrung in der physischen Substanz. Wir erleben unseren Körper als Teil eines Energiestroms, der aus dem Unendlichen kommt, ins Unendliche geht, innerhalb dessen sich die Materie in einem permanenten Wechselspiel verdichtet und wieder auflöst.
Wann immer wir uns KörperSein gönnen, heilen wir uns sowohl seelisch als auch und vor allem physisch, denn wir erlauben unserem Körper in den ursprünglichen Zustand von Balance zurückzukehren und sich auf der zellulären Ebene von Ballast zu reinigen.
Ein Beispiel aus meiner Biografie:
Mit „ Senk-, Platt- und Spreizfüßen“ – so die vernichtende Diagnose eines Orthopäden schon wenige Jahre, nachdem ich diese Welt betreten hatte. Also wurden mir Einlagen verpasst, der Absatz meines rechten Schuhs erhöht, meine Art zu laufen von den Erwachsenen misstrauisch beäugt und ständig korrigiert. Ich schämte mich für die altbackenen Treter, in die ich meine Füße stecken musste. Inmitten der Turnschuhgeneration wurde ich damit zu einer Art Fossil.
Dass meine Füße solche Schwierigkeiten machten, war sicher einerseits die Folge meiner Weigerung als Traumtänzerin auf dem Boden der Realität anzukommen. Zugleich führte die Problematisierung meiner Füße dazu, dass ich genau diesen Schritt bis weit über die Volljährigkeit hinaus nicht machen konnte.
Mit Mitte 20 geriet ich dank meiner Mutter in einen Selbsterfahrungskurs, dessen Leiterin uns Teilnehmenden einen Barfußgang am frühen Morgen durch den noch winterlichen Wald verordnete. Das Laufen über die gefrorene Erde brachte mir im Anschluss heiße, wundersam prickelnde Füße ein – für mich eine Offenbarung, eine im wahrsten Sinne des Wortes wegweisende Erfahrung. Ich begann, meinen Füßen zu vertrauen, mich ihnen zuzuwenden und die direkte Berührung mit der Erde zu genießen.

Einige Jahre später waren es tatsächlich meine Füße, die sich verselbstständigten, und die mich forttrugen aus einer unerträglich gewordenen Lebenssituation, an der mein Kopf noch festhalten wollte.
KörperSein bedeutet, unserem Leib die Führung zu überlassen.
Dazu ist es natürlich notwendig, dass wir bereit sind, auf unseren Körper zu hören. Viele Gewichtsprobleme und andere gesundheitliche Beeinträchtigungen könnten ohne Diätpläne und aufwendige Ernährungsumstellungen gelöst werden, wenn wir die Essenszufuhr mit achtsamem Wahrnehmen unseres Körpers verbinden würden, Unser Körper meldet uns unmittelbar zurück, wenn ihm etwas nicht guttut. Er kann es nicht leiden, zugestopft und vergiftet zu werden.

Steigen wir jedoch hinsichtlich unseres Körpers aus dem Haben-Modus aus und wechseln ins Sein, führt das mit recht hoher Wahrscheinlichkeit dazu, dass wir in unseren gewohnten Lebens- und Arbeitsverhältnissen nicht mehr so gut funktionieren wie bisher. Dann ist es schlicht nicht mehr möglich, unseren Körper mit seinen Ressourcen weiterhin auszubeuten. Bevor der Zustand der Erschöpfung bzw. noch schlimmer des Ausgebrannt-Seins eintritt, meldet unser Körper uns zuverlässig zurück, dass er Ruhe und Regenation braucht. Dieses elementare Bedürfnis bewusst und absichtlich zu unterdrücken, dürfte dann kaum mehr gelingen, denn wir realisieren die Gewalt, die wir unserem Körper antun würden.
Diesbezüglich hat unsere westlich zivilisierte Gesellschaft eklatanten Entwicklungsbedarf. Der Missbrauch sowie das Zugrunderichten unseres Körpers sind an der Tagesordnung und schaffen eine Krankheitsindustrie, der an der Gesundheit ihrer Patienten nichts gelegen ist, denn damit würde sie sich abschaffen. Meines Erachtens ist dies das Ergebnis eines kollektiven Schockzustandes, den wir als normal betrachten.
Unser Zugang zum Körper ist in vielen Fällen nicht nur versperrt, sondern wird mit vereinter Kraft verschlossen gehalten – die Folge von Traumatisierungen, die von Generation zu Generation weitergereicht und dabei verstärkt werden – sowohl auf der individuellen wie auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene.

Unser Körper ist unser Buch des Lebens; er speichert alles, was uns seit jeher widerfahren ist. Sobald wir uns auf ihn einlassen, setzt er Erinnerungen frei, und weil diese uns mitunter unerträgliche Schmerzen zu bereiten scheinen, müssen sie um jeden Preis unter Verschluss gehalten werden. Wir zementieren die Abspaltung. Zurzeit gewinnt diese eine Durchschlagskraft wie nie zuvor. Körperliche Arbeit, durch die wir uns unbewusst wieder ins Gleichgewicht bringen könnten, ist weitestgehend abgeschafft, ist und bleibt überdies verpönt; die Digitalisierung frisst sich in alle unsere Lebensbereiche. Statt unserem Körper die Führung zu überlassen, steuern wir unseren Alltag nicht nur fast ausschließlich aus dem Verstand heraus, sondern geben Kompetenzen ab an eine künstliche Intelligenz. Bei unseren Ablenkungsmanövern von Unbehagen und Schmerz erhalten wir von außen jede erdenkliche Unterstützung.
Der natürliche Zustand unseres Körpers ist pure Daseinsfreude.
Um dahin zu gelangen ist es unumgänglich, dass wir uns mit eben jenem Schmerz konfrontieren, dessen Vermeidung die Ursache unserer Spaltung ist. Damit wir dem Schmerz gewachsen sind und ihn so durchleben, dass er vergeht, braucht es Vertrauen in unseren Körper – in dem Sinne, dass er uns Halt gibt während dieses Prozesses.

Unser Vertrauen in unseren Körper wächst in dem Maße, in dem wir ihm geben, wonach er hungert – nämlich neue Erfahrungsmöglichkeiten. Der Körper mag es nicht zu erstarren, in eingefrorener Haltung dumpf stets dieselbe Routine zu durchlaufen; das schwächt und ermüdet ihn. Er liebt es und sucht danach, sich permanent neu zu erproben, die Bandbreite seines Erlebens zu erweitern und Einschränkungen abzuschütteln.
Angebote diesbezüglich gibt es in Hülle und Fülle – von Yoga, Eurythmie, QiGong, dem Erfahrbaren Atem, Massage, Tanz, Tantra, Feldenkrais, verschiedene Kampfkünste, körperbezogener Meditation u.v.m.
Finden wir heraus, welcher Weg unserem Körper am besten gefällt! Und schlagen wir diesen Weg ein in der Absicht, unseren Körper tatsächlich aufzuwecken als ein Wesen mit eigenem Gedächtnis, eigenen Gesetzen, eigener Weisheit, eigener Heilkraft, durch das unsere Seele sich in der Welt ausdrückt. Unser Körper ist gesegnet mit einem Verjüngungspotential und einer Magie, die wir zu Zeit gerade so erahnen, die sich hoffentlich künftigen Generationen in vollem Umfang enthüllen wird. Um uns das zu erschließen ist es geboten, dass wir die Sterblichkeit unseres Körpers bejahen ohne ihr zu erliegen.
„Selbst wenn es den Wissenschaften – Natur- oder Geheimwissenschaften – gelingen würde, die für ein unbegrenztes Überleben des Körpers notwendigen Voraussetzungen oder Mittel zu entdecken, würde die Seele dennoch, wenn der Körper es nicht schaffte, ein geeignetes Instrument für den Ausdruck des inneren Wachstums zu werden, einen Weg finden, den Körper zu verlassen und sich erneut inkarnieren. Die materiellen oder physischen Ursachen des Todes sind nicht die einzige oder wirkliche Ursache. Die wahrhaftige, innerste Ursache ist die spirituelle Notwendigkeit der Evolution eines neuen Wesens.“ (Sri Aurobindo)
KörperSein heißt nichts festzuhalten, schon gar nicht unseren Leib. Er weiß, wann und wie er sich eines Tages dem Tode überantworten, d.h. die Seele freigeben wird. Bis dahin will er nur eines: Leben!
„Ein Mensch in seinem vollständigen und vollkommenen Zustand ist voller Freude an seinem Atmen, voller Glück an seiner Beweglichkeit und wunderbar positiv in seinem vollkommenen Einklang mit seinem Dasein. Ein solcher Körper setzt seine Gefühle rückhaltlos in die entsprechende Ausdrucksform um – er schreit auf vor Freude, lacht vor Lust, faucht vor Wut und schluchzt in Kummer. Jedes Mal, wenn eine gefühlsmäßige Reaktion zum vollen Ausdruck gekommen ist, erlangt der Idealkörper sein Gleichgewicht wieder“.
Trudi Schoop (Pionierin der Tanz- und Bewegungstherapie)

Was bedeutet für Dich KörperSein? Was sind Deine kraftvollsten Erfahrungen diesbezüglich?
Wie ist Deine Beziehung zu Deinem Körper? Wie bist Du mit ihm im Reinen? Schreibe alles auf, was Dir dazu einfällt.
Fertige ein Somagramm an, d.h. zeichne den Umriss Deines Körpers auf ein Blatt Papier und trage ein, was Du in den einzelnen Bereichen von Kopf bis Fuß gerade empfindest. Welche Regionen brauchen Deine Aufmerksamkeit und Zuwendung?
Berühre dich einmal liebevoll am ganzen Leib. Lasse nichts aus.
Der Beitrag zum Anhören:
Danke, Monika für diesen vitalen ‚leibhaftigen‘ Text.
Und sehr schön dabei an Trudi Schoop und ihr „Komm tanz mit mir“ erinnert zu werden.
Wunderbar leibhaftigen Widerstand immer wieder auch auf Maßnahme kritischen Corona-Demos zu erleben
https://danser-encore.de/videos/
Körper-Leib-Seele werden hier nicht zur Gefahrenquelle degradiert sondern als Quell der Lebendigkeit gefeiert.
Liebe Monika, vielen Dank für das Erinnern. Vielen Dank für die Mühe. Vielen Dank, dass ich Dich kenne. Danke, dass es Dich gibt und Du mir immer wieder ein wenig Hoffnung und Licht bringst. Danke für Dein Sein. In Verbundenheit und Liebe von Rene